Changing Historiographical Perspectives on Rural Societies / Historiografische Konzeptualisierungen der ländlichen Gesellschaft

Changing Historiographical Perspectives on Rural Societies / Historiografische Konzeptualisierungen der ländlichen Gesellschaft

Organisatoren
Schweizerische Gesellschaft für ländliche Geschichte SGLG; Universität Zürich UZH; Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen; Archiv für Agrargeschichte AfA
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
10.02.2017 - 11.02.2017
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Von
Claudia Sutter, Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen

Die bereits dritte Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für ländliche Geschichte (SGLG) hatte sich zwei Ziele gesetzt: (1) Gegenstände der Konzeptualisierung sollen aufgezeigt und (2) die Konzeptualisierungen innerhalb der verschiedenen Epochen und deren diachrone Entwicklungen verglichen werden.

In Teil I unter dem Titel „Herrschaft, Gesellschaft, Quellenlagen“ untersuchten FLORIAN BATTISTELLA und DAVID PITZ (Tübingen, DE) den sozialen Statuswandel der Kolonen im römischen Reich des 4. bis 6. Jahrhunderts. Das bisher gängige Konzept, nach welchem die Sklaven sich zu freien Arbeitern entwickelten, um dann wieder in die Halbfreiheit zurückzufallen, hat sich als zu wenig durchdacht erwiesen. Aufgrund der zeitlichen und geografischen Heterogenität der Kolonengesetze, welche die Quellenbasis der vorgestellten Untersuchung darstellen, können tiefgreifende Veränderungen in der ländlichen Bevölkerung nachvollzogen werden (Kriege, Pest, etc.; daraus resultierend eine Verschärfung der wirtschaftlichen Konkurrenz, eine massive Mobilität im Sinne von Arbeitsmigration). Eine Annäherung an die ländliche Siedlung im Früh- und Hochmittelalter aus archäologischer Perspektive wagte JÜRG TAUBER (Itingen, CH). Im Raum der heutigen Nordwestschweiz, welche bis anhin als ländlich und agrarisch, das heißt als autark im grösstmöglichen Masse, galt, konnte er aus der Rhône- sowie der Saône-Region importierte Keramik nachweisen. Diese Produkte sind als Luxuswaren anzusprechen und sprechen eindeutig gegen eine ländlich-agrarische Gesellschaft, genauso wie 13 nahe beieinanderstehende Töpferöfen, welche bis ungefähr ins Jahr 800 in Betrieb waren, und ein Hochofen aus dem 13. Jahrhundert. Diese Funde deuten auf eine sozial differenzierte Gesellschaft hin, welche auf einem effizienten Vertrieb der produzierten Ware und auf eine gute Vernetzung aufbauen konnte. KARIN PATTIS (Welschnofen, IT) hingegen fokussierte in ihrem Referat auf schriftliche Quellen. Sie skizzierte die Intensivierung der schriftgestützten Verwaltung, welche das Kloster Neustift im Südtirol seinen Besitzungen in den umliegenden Bergtälern ab den 1510er-Jahren auferlegte. Die somit ermöglichte genauere Kontrolle der ländlichen Bevölkerung führte (in Kombination mit anderen Faktoren) zum Bauernaufstand. Sie konnte zeigen, wie eine einzelne Person die Verwaltungsschriftlichkeit prägte und wie eine doppelte Schriftführung (die eine Fassung des Schriftstücks wurde im Kloster, eine andere Fassung im Dorf hergestellt, wobei jene aus dem Dorf jeweils ausführlicher ausfiel) Details über die Unterschiede in der Handhabung der Informationen sowie der Verwaltungsschriftlichkeit im Allgemeinen offenbaren.

In Teil II unter dem Titel „Stadt-Land: Eigenheiten und Interaktionen“ stellte REGINA SCHÄFER (Mainz, DE) die Winzerdörfer in Rheinhessen und im Rheingau vor und demonstrierte, wie die Region trotz geografischer Enge und politischer Zersplitterung eine einzige Wirtschaftsregion bildete, in welcher sich bereits für das 9. Jahrhundert überlokale Vernetzungen und mehrere gesellschaftliche Schichten feststellen lassen. In Bezug auf eine Gesellschaft, in welcher am Ende des Hochmittelalters Knechte in einem eigenen Haushalt lebten und als Kreditgeber fungierten, der Landmarkt ebenso gross war wie die Kreditabhängigkeit und der Wein ausschliesslich für den Export produziert wurde, fragt man sich, ob es sich nicht lohnen würde, dem Begriff ‚ländlich’ eine neue Definition zu gönnen. Einen grundsätzlich anderen Ansatz wählte SHAMI GHOSH (Toronto, CA), der mit Hilfe von zeitgenössischen Quellen die Entstehung und die Anfänge des Kapitalismus („commercialisation“, „origins of capitalism“) nachzeichnen will. Mit einer Vielzahl von typologisch unterschiedlichsten Quellen aus dem süddeutschen Raum möchte er beweisen, dass die ländliche Bevölkerung bereits im 13. Jahrhundert regelmässig Zugang zu städtischen Märkten hatte, wo eben nicht mehr die Tauschwirtschaft (Waren gegen Waren), sondern eine monetäre Wirtschaftsform (Waren gegen Geld) vorherrschend war. Die Währung, auf welcher die Studie von JESSICA MEISTER (Zürich, CH) basierte, sind Pferde und anderes Grossvieh, welche im späten Mittelalter von Innerschweizer Händlern auf die lombardischen Märkte gebracht wurden. Eidgenössische Länderorte, das heißt ländliche Gegenden wie Luzern, Schwyz, Unterwalden und Glarus, entwickelten eine kommerzielle Spezialisierung auf Grossviehhandel, dank welchem sich in den betroffenen Orten neue Führungsschichten bildeten. Dabei kristallisierte sich heraus, dass keine grossen Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Händlern und ihren jeweiligen Karrieren in Wirtschaft, Politik und Militär festzustellen sind. SARAH BAUMGARTNER und GERRENDINA GERBER-VISSER (Bern, CH) untersuchten die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegründeten ‚Zürcher Physicalische Gesellschaft’ sowie die ‚Oekonomische Gesellschaft Bern’. Beide – wohlbemerkt städtische Verbindungen und Phänomene – hatten sich zum Ziel gesetzt, die landwirtschaftlichen Arbeiten ihrer jeweiligen Untertanen zu analysieren und durch Verbesserungsvorschläge zu optimieren. Dabei lagen die Interessen (Handel, Gewerbe und Demografie, aber auch Meteorologie und Topografie) genauso wie die Vorgehensweisen (Umfragen, Fragebögen, persönliche Gespräche) und Motivationen (emanzipatorische und demokratische Bewegung, Machtdemonstration gegenüber den Untertanen sowie ihre Indoktrinierung) der beiden Gesellschaften nahe beieinander. Die bereits zuvor bestehenden Vorurteile gegenüber der ländlichen Bevölkerung in Form von Topoi (Treue, Ehrlichkeit und Fleiss, aber auch Aberglauben und Innovationsscheue) wurden dabei nicht aus der Welt geschafft, sondern weiterpropagiert. Den zweiten Teil der Tagung abschliessend präsentierte ANTON SCHUURMAN (Wageningen, NL) verschiedene Definitionen, nach denen zwischen 5 und 35 Prozent der Bevölkerung seines Heimatlandes auf dem Land („countryside“) wohnten. Dabei strich er heraus, dass die Landwirtschaft („agriculture“) erst sehr spät als traditionell und ebenso spät als marktorientiert wahrgenommen wurde. Die verschiedenen Konzepte und Perspektiven, welche während den vergangenen Jahrzehnten eingenommen wurden, endeten in der Feststellung, dass das Land („countryside“) und die Landwirtschaft („agriculture“) zwar den gleichen geografischen Raum betreffen, aber auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene verschiedene Aufgaben wahrnehmen bzw. wahrnehmen müssen.

In Teil III unter dem Titel „Konzepte, Methoden, Perspektiven“ untersuchte EVELINE SZARKA (Zürich, CH) mit einem kultursemiotischen Ansatz den frühneuzeitlichen Geisterglauben in der deutschsprachigen Schweiz kurz nach der Reformation. Sie zeichnete den Transfer von Wissen und Bewältigungsstrategien im Umgang mit Geistern und Gespenstern über die Grenzen von Stadt und (Um)Land nach und zog einen Vergleich zwischen dem katholischen und dem protestantischen Umfeld. Die Theorie besagt, dass sich desto eher alternative Deutungen und Interpretationen von unerklärlichen Phänomenen entwickeln, je grösser die Entfernung vom Zentrum der Semiosphäre, das heißt von der Stadt, ist. Dies hat sich allerdings nicht bestätigt, da kein spezifisch ländlicher Geisterglaube festzustellen war. Einen neuen Blick auf ein anderes unerklärliches Phänomen, bzw. seine Folgen, forderte JOËLLE KHATER (Zürich, CH). Sie untersuchte eine Prophezeiung, welche für das Volk der Khosa im heutigen Südafrika in den 1850er-Jahren die vollständige Selbstauslöschung provozierte, wovon die Britischen Kolonialherren profitierten und das Stammesland ohne weitere Kämpfe übernehmen konnten. Im Laufe der Untersuchung stellten sich territoriale und materielle Probleme, welche bereits vor dem Einfall der Briten bestanden, als Hauptursache des sogenannten Cattle-Killings heraus. Einen soziologischen Blick auf die Bauern im Österreich von heute hatten ANJA EDER und SABINE HARING (Graz, AT). Im Sinne Max Webers definierten sie drei Idealtypen von Bauern (traditionell, modern, postmodern) und versuchten mit empirischen qualitativen wie quantitativen Methoden, die untersuchten Bauernfamilien diesen Idealtypen zuzuordnen. Am häufigsten wurde die „moderne“ Bauernfamilie vorgefunden, welche sich durch Merkmale wie Liebesheirat, Akzeptanz von Kindheit und Jugend als eigene Lebensphase, Bildung, Privatsphäre und zunehmender Wichtigkeit von Freizeit beschreiben lassen. Das Feststellen von starken regionalen Unterschieden in dem sehr heterogenen bäuerlichen Milieu entsprach den Erwartungen. ERIK THOEN (Gent, BE) beschrieb und verteidigte sein Konzept des „social agro-system“, welches er seit einiger Zeit vertritt und laufend verfeinert. Obwohl der Wortteil „agro“ in der Bezeichnung seines Konzepts figuriert, sei es kein spezifisch ländliches, sondern ein grundsätzlich wirtschaftliches Konzept. Den letzten Vortrag bestritt ERNST LANGTHALER (Linz / St. Pölten, AT). Unter Vorführung vieler Beispiele plädierte er für neue Perspektiven, unter welchen an den Untersuchungsgegenstand herangegangen werden könnte und sollte.

Während den kurzen Diskussionen im Anschluss an die Referate sowie in der abschliessenden Diskussion wurde mehrfach die Notwendigkeit betont, genauere Konzepte und genauere Bezeichnungen für weitverbreitete Phänomene zur Hand zu haben (wie Dorf, Siedlung, Kleinstadt, oder Villa, Vicus). Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass das Arbeiten mit starren Kategorien (wie traditionelle, moderne, postmoderne Bauernfamilie) – und zum Teil auch mit alten Modellen (wie Stadt–Land) – weder befriedigend noch zielführend sei. Es wurde dazu aufgerufen, über den eigenen Forschungsgegenstand hinauszuschauen und sich im grossen Ganzen, das heißt der Geschichte, der Soziologie oder der Landwirtschaft, einzuordnen. Den Anspruch, ein internationales, epochenübergreifendes, interdisziplinäres und zukunftweisendes Kolloquium zu sein, hat das Treffen auf alle Fälle erfüllt.

Konferenzübersicht:

Teil I: Herrschaft, Gesellschaft, Quellenlagen
Moderation: Stefan Sonderegger (Universität Zürich, Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen, CH)

FLORIAN BATTISTELLA und DAVID PITZ (Tübingen, DE): Ländliche Gesellschaft und agrarische Arbeitskräfte in der Spätantike. Ein Problemaufriss und eine neue Perspektive

JÜRG TAUBER (Itingen, CH): Was ist eine ländliche Siedlung? Ein Beitrag zum Früh- und Hochmittelalter aus archäologischer Sicht

KARIN PATTIS (Welschnofen, IT): Veränderte Herrschaftsbeziehungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts am Beispiel des Klosters Neustift bei Brixen

Teil II: Stadt-Land: Eigenheiten und Interaktionen
Moderation: Dorothee Rippmann-Tauber (Universität Zürich, Itingen, CH)

REGINA SCHÄFER (Mainz, DE): Eine ländliche Gesellschaft des Spätmittelalters – die Winzerdörfer in Rheinhessen und im Rheingau

SHAMI GHOSH (Toronto, CA): Rural commercialisation in southern Germany, c. 1200–1440

JESSICA MEISTER (Zürich, CH): Handlungsspielräume eidgenössischer Pferdehändler im ausgehenden Mittelalter

SARAH BAUMGARTNER und GERRENDINA GERBER-VISSER (Bern, CH): Die ländliche Gesellschaft im Blick der Zürcher und Berner Ökonomen (1759–1830)

ANTON SCHUURMAN (Wageningen, NL): Different histories, different futures. The Dutch countryside and agriculture in the long twentieth century

Teil III: Konzepte, Methoden, Perspektiven
Moderation: Peter Moser (Archiv für Agrargeschichte, Bern, CH)

EVELINE SZARKA (Zürich, CH): Städtisches Zentrum – ländliche Peripherie? Kultursemiotische Überlegungen zum frühneuzeitlichen Geisterglauben in der Schweiz

JOËLLE KHATER (Zürich, CH): Das Cattle-Killing der Xhosa im heutigen Südafrika: Die ländlichen Strukturen der Xhosa-Gesellschaft als Voraussetzung für das Cattle-Killing (1856/57)

ANJA EDER und SABINE HARING (Graz, AT): Bäuerliche Lebenswelten als Forschungsgegenstand der Soziologie

ERIK THOEN (Gent, BE): The concept „social agro-systems“ to study the rural society in the Old Regime. A theoretical framework

ERNST LANGTHALER (Linz / St. Pölten, AT): Was ist Agrargeschichte – und was könnte sie sein?

Schlussdiskussion, Fazit und Ausblick


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